TerrassenTalk: Orestie I-IV „Demokratie ist echt schwierig“

Orestie I-IV Sebastian Rudolph, Patrycia Ziolkowska. (Foto SF Armin Smailovic)Salzburger Festspiele TerrassenTalk: Orestie I-IV  „Demokratie ist echt schwierig.“ Bewusst als einen der großen intellektuellen Regisseure des deutschsprachigen Theaters hat  Schauspielchefin Marina Davydova Nicolas Stemann für die diesjährige Neuinszenierung der Orestie ausgewählt. Gerade in der heutigen, sich schnelllebig verändernden Zeit sei es wichtig, dass Künstler in der Lage seien, die komplexe Weltordnung neu zu durchdenken, erklärt sie.

Über seinen Zugang zum Stück sagt Regisseur Nicolas Stemann: „Wir spielen den Orestie-Komplex nicht in der bekannten klassischen Trilogie-Form von Aischylos als älteste überlieferte Dramen-Trilogie überhaupt, sondern als Zusammenstellung von vier verschiedenen Stücken der drei klassischen griechischen Autoren Aischylos, Sophokles und Euripides, die alle Stücke zu dieser Thematik geschrieben haben.“ Daraus sei eine Tetralogie nach dem klassischen Vorbild der aus drei Tragödien und einem Satyrspiel bestehenden Dionysien entstanden. „Das erste Stück ist der Agamemnon von Aischlyos, das zweite die Elektra von Sophokles, das dritte die Eumeniden wiederum von Aischylos und das vierte der Orestes von Euripides. Dabei ist es interessant, zu sehen, wie unterschiedlich die Zugänge der drei Autoren sind. Die Stücke sind innerhalb eines Zeitraums von 50 Jahren entstanden, der zwischen der Orestie von Aischlyos und dem Orestes von Euripides liegt.“ Es sei frappierend, wie sich die Perspektiven auf die Themen geändert hätten. Die griechischen Autoren hätten auch immer auf die mythischen Stoffe zurückgegriffen, um ihre eigene politische Situation zu verhandeln. Es gehe um die Frage von Demokratie und eines friedlichen Zusammenlebens. „Aischylos findet eine Antwort, indem er den Beginn eines von Menschen geschaffenen, die göttlichen Gesetze ablösenden klassischen Rechtsstaats beschreibt. Bei ihm findet die Begnadigung des Orest statt als große Utopie.“ Bei Euripides 50 Jahre später sei dies ganz anders: „Die Versammlung stimmt hier gegen eine Begnadigung von Orest und Elektra ab, hier entsteht ein großes desillusionierendes, fast satirisches Ende. Was zu dieser Desillusionierung vom blühenden Beginn bis zum Niedergang der attischen Demokratie geführt hat, das hat uns interessiert.“

Salzburger Festspiele TerrassenTalk "Die Orestie" Regisseur Nicolas Stemann. (Foto SF Neumayr / Leopold)
Salzburger Festspiele TerrassenTalk „Die Orestie“ Regisseur Nicolas Stemann. (Foto SF Neumayr / Leopold)

Angesprochen auf das im Zentrum stehende Thema der Demokratie und die wandernden Identitäten beim gleichzeitigen Spielen mehrerer Rollen, sagt Patrycia Ziolkowska: „Das erste Stück erzählen wir aus der Chorgemeinschaft heraus, aus der sich die Individuen herausschälen. Das spielt dann wiederum in den weitaus psychologischer geschriebenen zweiten Sophokles-Teil hinein, der sich dichterisch wesentlich von Aischylos unterscheidet. Das Kollektiv des ersten Teils beginnt am Ende des Agamemnon zu zersplittern, die Vereinzelung der Figuren wird dann im zweiten Teil zu sehen sein. Diese Art zu arbeiten, ist mir und Sebastian Rudolph schon bekannt, mit Nicolas Stemann arbeiten wir schon seit 15 Jahren zusammen.“

Orestie I – IV 2024: Chor Patrycia Ziolkowska, Julia Riedler, Sebastian Zimmler, Sebastian Rudolph. (Foto SF Armin Smailovic)
Orestie I – IV 2024: Chor Patrycia Ziolkowska, Julia Riedler, Sebastian Zimmler, Sebastian Rudolph. (Foto SF Armin Smailovic)

Die verschiedenen Identitäten des Chors als persönlich nicht verantwortliche Gemeinschaft und des allmählich sich herauskristallisierenden Vorkommens einzelner, eigener Interessen betont auch Sebastian Rudolph: „In diesem Transformationsprozess lag auch eine der Herausforderungen bei den Proben.“ Und Julia Riedler ergänzt: „Der Chor in seiner Gesamtheit will auf der einen Seite keine Verantwortung übernehmen. Auf der anderen Seite gibt es im Kontext von Machterhalt und Staatsräson die sowohl aus damaliger als auch heutiger Sicht ziemlich moderne Frauenfigur der Klytaimnestra.“

Über den medialen Aspekt der Inszenierung und die damit verbundene Darstellung von Gewalt sagt Stemann: „Speziell das erste Stück hat viel mit Krieg zu tun – ein Zustand, den wir auch in unserer Zeit wiederfinden. Die heute verbreitete Haltung des Leugnens und Verdrängens wird durch den scheinbar distanzierten Chor symbolisiert, der aber letztendlich doch involviert ist.“ Die Bildersprache werde im Lauf des Abends mittels an die Wand plakatierter Bilder zunehmend kriegerischer, dabei aber auch nicht ganz greifbar. Rudolph ergänzt: „Der Glaube an die Wahrheit der Bilder wird – auch durch teilweise eingesetzte KI – bewusst in Frage gestellt.“ Und Julia Riedler fügt hinzu: „Das Ganze passiert in einer großen Schnelligkeit auf uns einprasselnder Bilder und sich permanent erneuernder Umstände. Die Gesellschaft des Chors wird beständig verändert. Der Chor ist daher für mich die ‘Figur’, die am schwierigsten zu spielen ist. Die Pluralität von Ereignissen ist komplexer als das Schwelgen in einem Gefühl, in dem Individuen im späteren Verlauf des Stücks verharren.“

Rudolph hebt außerdem den Umgang mit der Größe und Wucht der Sprache hervor, der Chor habe eine bewusst reduziert vielstimmige Feinheit erhalten, bleibe aber dennoch eine Gemeinschaft. „Die Musikalität der Sprache versuchen wir, ins Heute zu ziehen, um die Geschichte in ihrer Zeitlosigkeit besser erlebbar zu machen. Dass sich dabei im Vergleich zu den Themen von damals wenig geändert hat, ist frappierend“, findet Patrycia Ziolkowska.

Salzburger Festspiele TerrassenTalk „Orestie I – IV“ 2024: Marie-Therese Rudolph (Moderation), Nicolas Stemann, Patrycia Ziolkowska, Julia Riedler, Sebastian Rudolph. (Foto SF Neumayr / Leopold)
Salzburger Festspiele TerrassenTalk „Orestie I – IV“ 2024: Marie-Therese Rudolph (Moderation), Nicolas Stemann, Patrycia Ziolkowska, Julia Riedler, Sebastian Rudolph. (Foto SF Neumayr / Leopold)

Ein so großes Chorstück mit nur wenigen Menschen entgegen deren individuellen Interessen in einem so großen Raum zu machen, betrachtet Stemann als Herausforderung, die er bewusst gesucht habe. „Wir wollten zeigen: Chor kann auch filigran sein. Dazu haben wir aber noch einen aus fünf Sängerinnen bestehenden Schattenchor als Gesangschor, der über Energien, Töne und Bewegungen zum Entstehen eines chorischen Gefühls beträgt.  

Julia Riedler empfindet dabei einen „Zwiespalt der Gefühle“, die einem selbst als Darstellerin im Spannungsfeld der chorischen und der individuellen Verkörperung entgegenschlagen.  
Über die von ihm zusätzlich zum Chor kreierte Musik sagt Stemann: „Das ist eine kleine, aus Schlagzeug, Gitarre und Keyboard bestehende Band. Die damaligen Tragödien waren keine reinen Sprechstücke, es war viel Musik involviert, die nur mangels Notationssystems nicht übermittelt ist. An dieser Ebene habe ich mich etwas orientiert, um dadurch eine zusätzliche Energie und eine einladende Form entstehen zu lassen.“
 
Gefragt, was sie aus dem Probenprozess und den darin behandelten Themen mitgenommen haben, äußern sich die Künstler in ähnlicher Richtung: „Es entstehen schwierige Situationen, in denen man Entscheidungen treffen und ins Handeln kommen muss. Im Recht zu sein, ist dabei aber letztendlich immer auch eine Frage der Perspektive, aus der oft ein Dilemma steht“, sagt Ziolkowska. Die „Kraft, mit der Komplexität ausgehalten wird“, beeindruckt Rudolph am Stück. Im Gegensatz zur heutigen Zeit, die nach Vereinfachung strebe, hielten die Figuren der griechischen Tragödie Konflikte und immer wieder neu zu stellende Fragen auf bewundernswerte Weise und ohne Anflüge von Gleichgültigkeit aus.“ Auf einen Nenner gebracht, lautet Julia Riedlers prägnantes Fazit: „Demokratie ist echt schwierig“. Gerade mit Blick auf einen solchen lebendigen Diskurs sei Theater als Diskussionsraum faszinierend. Die Sinnlichkeit des Theaters als politisches Medium im Sinne der antiken dionysischen Spiele zu nutzen, sieht Ziolkowska als große Möglichkeit. Mit dem Publikum gemeinsam in eine Reflexion zu gehen, betrachtet sie als Aufgabe. Gefährdung von Demokratie durch Populismus zu begegnen, aber auch die Widersprüchlichkeit für sich selbst definierter Helden auszuhalten, ist für Rudolph die Quintessenz aus dem Stück.

Krieg als präsentes Thema hat Stemann auch beim Schreiben der Textfassung bewegt. Für ihn stellt sich die Frage: „Wie kommt man dazu, den Teufelskreis aus Rache und Vergeltung zu durchbrechen?“

Großes Beitragsfoto: Orestie I – IV 2024:  Sebastian Rudolph, Nicolas Stemann, Julia Riedler, Patrycia Ziolkowska. (Foto SF Neumayr / Leopold)

 

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